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Das Lindenhaus

Das Lindenhaus, Roman von Willi Schmidt

16,50 Euro


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per Post: Grundblick Verlag, Holzhäuser Str. 17, 35085 Ebsdorfergrund-Wittelsberg

oder www.synergia.de

ISBN:  978-3-9817063-2-1

 

Paul erinnert sich an das „Lindenhaus“, ein alternatives Tagungshaus, wo er bei einer Reise Anfang der 1990er Jahre das Mädchen Katrin kennenlernt, das sich nach einer Theaterfigur von Frank Wedekind „Lulu“ nennt. Sie wird Pauls große Liebe. Als er nach seiner ersten Begegnung mit Lulu später in das Lindenhaus zurückkehrt, um sie wiederzusehen, ist diese mit ihrer Freundin Jenny verschwunden.

Viele Jahre später, in der Gegenwart, nimmt Lulu wieder Kontakt zu Paul auf, der sich inzwischen als politisch engagierter Journalist einen Namen gemacht hat  und ihre Liebe erwacht aufs Neue. Sie fahren gemeinsam in das mittlerweile leerstehende „Lindenhaus“. Lulu hat sich politisch radikalisiert und ist untergetaucht, sucht dabei Pauls Hilfe. In einer Nacht im „Lindenhaus“ erzählen sie sich ihr Leben, wozu auch traumatische Erlebnisse aus Lulus Vergangenheit gehören, bis sich am anderen Tag die Lage dramatisch zuspitzt…

So brüchig wie die Liebe ist auch die Form des Romans; so sind Gedichte, Film- und Theaterdialoge sowie politische Kolumnen eingearbeitet, welche den gesellschaftlichen Hintergrund der 90er Jahre bis in die Gegenwart beschreiben.




Textauszüge

 

Aus Teil 1:

 

Lulu, ich traf dich im Lindenhaus, an einem warmen Sommermorgen, dem ein heißer Sonnentag zu folgen hatte. Wir saßen am Frühstückstisch. Beate, die Mutter deiner Freundin Jenny, schenkte Kaffee ein.

Über deine langen blonden Haare hattest du ein rotes Stirnband gebunden, und deine dunklen Augen umkreisten mich, ich folgte ihnen, ich ließ mich bei ihnen nieder, sie wuchsen, wurden größer und größer, ein schattiger Platz in der Hitze des Sommers, während ich den Kaffee trank und Mühe hatte, nicht zu zittern, wenn ich die Tasse hob. Das ein oder andere Mal musste ich beide Hände nehmen, um nichts zu verschütten.

 

 

Die Wellen des Teiches schweigen

Mit den lichten Bäumen am Ufer

Tief unten im Grund

Schlafen die Fische im warmen Schlamm.

 

Wenn du die Augen öffnest

Geht die Sonne auf

Und ein Lächeln breitet sich aus

Über das ganze Land.

 

 

Das Lindenhaus war eine große Landkommune am Rande des Dorfes, mittlerweile hauptsächlich ein Tagungshaus, in dem Seminare stattfanden, was man aber auch mieten konnte. Und es gab Zimmer für Einzelreisende, wie in einer Pension. In der großen Küche stand ein langer Tisch, an dem immer alle, die gerade anwesend waren, zusammen aßen, auch die Einzelgäste. Ich war ein Einzelgast und nicht das erste mal hier. Es waren einige Jahre vergangen, seit ich in der Gegend gewandert war, ein Zimmer suchte und hier fand. Lulus Freundin Jenny war damals noch ein Kind. Und als ich eines abends im Garten auf der Bank saß, unter dem Kirschbaum und vor mich hinschaute, in die alten Apfelbäume, an denen man schon die kleinen Früchte sah, kam auf einmal Jenny, lehnte sich an die Bank und fragte mich Dinge, auf die ich keine Antwort wusste.

Was mich Jenny damals gefragt hatte?

Ob ich wüsste, wer ihr Vater sei. Wie sollte ich das wissen.

- Hat dir das denn deine Mutter nicht gesagt?

- Nein, hat sie nicht.

- Dann fragte sie noch mal. Du hast doch ein Recht, das zu wissen.

- Bist du denn mein Vater?

- Nein, das bin ich nicht.

- Willst du es sein?

- Ich bin doch viel zu jung dazu.

- Magst du denn meine Mama nicht?

- Ich kenne sie doch gar nicht. Und außerdem hat sie doch bestimmt einen Freund, oder?

- Ja, das hat sie. Den Jan. Aber das ist nicht mein Vater.

- Dann könnte aber doch der Jan dein Vater werden.

- Ja, das hätte er wohl gern. Aber ich mag ihn nicht so richtig.

- Warum denn nicht?

- Das kann man doch nicht erklären.

- Nein, das kann man nicht erklären, du hast Recht.

- Und du, warum bist du hier?

- Wenn ich das wüsste. Ich gehe durch die Gegend, weiß nicht wozu. Und jetzt sitze ich hier und schaue, ich weiß nicht wohin.

- Warum?

- Man findet keine Antwort, wenn man eine finden muss.

- Du bist komisch, Paul.

- Ja, da hast du wohl recht.

- Aber ich mag dich.

 

Jetzt war ich wieder in der Gegend herumgelaufen, ohne zu wissen wozu. Es hatte sich seltsam wenig verändert im Lindenhaus. Es stand der gleiche lange Tisch in der großen Küche, und Jennys Mutter lebte hier und kümmerte sich hauptsächlich um das Essen. Der kleine Hofladen war dazu gekommen, Käse und Honig aus eigener Herstellung, die Milch kam von einem Biobauern in der Nähe, und Jennys Mutter war Imkerin geworden. Jennys Mutter. Beate. Sie schien immer etwas zu tun zu haben, ihre Hände bewegten sich unaufhörlich, und doch ging eine Ruhe von ihr aus. In ihrer Nähe konnte man gar nicht anders als sich hinsetzen, durchatmen und an die wesentlichen Dinge denken: Käse, Kaffee, die Bienen, Apfelbäume, die Kartoffeln im Garten.

Und doch, gleichzeitig, heute, als ich nicht nur deine Augen sah, Lulu, sondern die paar Sommersprossen, die über dein Gesicht schimmerten, da wuchs die Unruhe. Und im Geschmack von Kaffee mit Milch, der wohlig warm die Kehle hinunterrann und die leichte Morgenübelkeit vertrieb, die nahezu täglich in mir lauerte, da mischte sich der Geschmack deines Atems mit hinein, obwohl du auf der anderen Seite des nicht nur langen, sondern auch tiefen Tisches saßest, schmeckte ich ihn und vorbei war es mit der Ruhe. Bis ich dein Gesicht betrachtete. Und für einen Moment stand alles still, denn dein Gesicht war ein Gemälde. Das Gemälde eines alten Meisters, den Moment der Schönheit, aller Schönheit dieser Welt, festgehalten für immer.

(....)

Am späten Nachmittag wartete ich auf das Gewitter. Es war so heiß, dass ich nicht spazieren gehen mochte. Der Himmel, der am Morgen noch blau gewesen war, wurde hell und heller und die Sonne so weiß wie über der Wüste oder über südländischen Dörfern, in denen nichts Grünes mehr ist, die Frauen, schwarz und weiß verschleiert, sich langsam wie in Zeitlupe bewegen und die Männer, mit Mütze und sonnengegerbt, bärtigem Gesicht, auf der Treppe vor der Haustür sitzen. Und man hat das Gefühl, dass nur noch ein Gewitter Rettung bringen kann. So saß ich auf der Bank im Garten, auf der ich auch damals gesessen hatte und der kleinen Jenny keine rechten Antworten geben konnte, ein wenig kühlte der Schatten des alten Kirschbaums, aber es ging keine Luft und ich spürte leichten Schweiß auf meiner Haut, auch wenn ich mich kaum regte und wartete auf das Gewitter und dich, Lulu.

Ihr kamt zu zweit, natürlich kamt ihr zu zweit, Jenny und Lulu, vor dem Gewitter.

Ich hatte mich auf der Bank auf den Rücken gelegt, den Kopf auf die Arme, die Beine angewinkelt, meine Zehen spielten in den leichten Stoffturnschuhen. Mir fielen die Augen zu, ohne dass ich einschlief. In der Ferne bellte ein Hund, ganz leise, kaum hörbar raschelten die Blätter im Kirschbaum, plötzlich schimpften Raben lautstark, und als sie verstummten, war es still, ganz still, als döste jetzt alles in der spätnachmittäglichen Hitze in der Erwartung auf Erlösung. Da hörte ich euch tuscheln und kichern miteinander, Jenny und Lulu, ohne zu wissen, wo ihr euch befandet. Das Geräusch schien vom Himmel herab zu prasseln, allmählich näher zu kommen, leicht wie ein Spiel, die Murmeln im Sandhaufen im Garten, wie sie aneinander klirrten im Werfen mit den Nachbarskindern, dieses glockenhelle Geräusch mit dem Kinderlachen, und ich spürte meine Lippen, wie sie sich bewegten, aneinander rieben, mit der Zunge spielten. Als ich die Augen öffnete, war der Himmel schmierig geworden und er drückte die Hitze herab, als wolle er mich zudecken damit und ersticken. Ich hob den Kopf.

 

Ich hob den Kopf und drehte ihn in Richtung des Kicherns. Auf der Wiese im niedrigen Gras zwischen verblühtem Löwenzahn hockten Jenny und Lulu und unterbrachen ihr Getuschel. Lulu im schlichten, weißen Sommerrock und ärmellosen Shirt, Jenny in kurzen Jeanshosen und kariertem, dünnen Hemd. Sie betrachteten mich neugierig wie einen Fremden, immer noch mit diesem vertrauten, leicht niederprasselnden Kichern.

"Du hast im Schlaf gelacht", sagte Lulu und ihre Stimme flog mir ins Herz, mitten hinein ins Herz und ich richtete mich auf mit plötzlichem Schwung, saß aufrecht auf der Bank und sah die beiden an, die barfüßig, aneinander gelehnt im Gras ruhten, wie hingemalt. Wie eine Skizze, genauer gesagt, und ich füllte die Skizze mit meinen Augen.

Jenny verschränkte den Daumen in der Hand zu einer sanften Faust. Eine Fliege kitzelte ausdauernd. Dann wischte sie sich den Staub vom Arm. Und das Bild kam in Bewegung. Lulu umfasste ihr Knie mit der Hand.

"Du hast im Schlaf gelacht. Hast du geträumt?"

 

"Ich war ein Kind und lag in unserem Garten.

Unterm Kirschbaum hockt ein Mond.

Er spielt in einem Sandhaufen aus weißer Zeit.

Auf blasse Backsteinwand hüpfen Murmeln.

Der Junge gräbt eine Grube fürs Meer.

Ich sitze bei den Brennnesseln.

Die schützen mich.

Der Ast kratzt an den Steinen unseres Hauses.

Wie ein Gebet befliegt mich schwarzer Staub.

Ich rase mit dem grauen VW-Käfer in der Linken

Und dem 600er Mercedes-Pullmann in der Rechten

durch den Sand.

Unter den Fingernägeln sind die verbotenen Ränder

von Dreck.

Die riechen nach Erde und mir.

Das ist das Glück."

 

"Du meinst also, das Glück liegt nur im Augenblick."

Jenny erhob sich und als sie stand, war ihre Haltung leicht gebückt. Ruhig ging sie zur Bank und setzte sich neben mich.

"Hier gibt es kein Glück. Wir müssen fort. Fort von hier, um es zu suchen."

Lulu streckte das Gesicht himmelwärts und stützte ihren Oberkörper nach hinten mit den Händen ab. Ich gab keine Antwort. Ein leichtes Kribbeln in meinem Bauch wuchs zu einem inneren Zittern, als ich Lulu ansah.

Ich sah in diesem Augenblick deinen Bauch mit heller Haut, schneeweiß sah ich deine Haut und dein Nabel war das Glück in diesem Augenblick.

"Ja, das Glück liegt nur im Augenblick. Das glaube ich."

"Aber es kann ja nicht egal sein, wie man lebt. Ein Zuhause zu haben, sich wohl zu fühlen, mit anderen Menschen zusammen, ich meine so prinzipiell, grundsätzlich, das ist doch eigentlich Glück, auch wenn man es nicht dauernd empfindet, weil man sich ja mit ganz normalen Dingen beschäftigt, für die Schule lernt, sich um das Essen kümmert und so weiter und sich vielleicht sogar streitet, sich auf die Nerven geht, das gehört doch alles dazu, das, das brauchen wir doch. Es geht doch nicht nur um das kurze, tiefe Gefühl, was dann gleich wieder vorbei ist."

Jennys Stimme klang entschlossen. Sie zupfte sich am Haarband, welches ihren Zopf zusammenhielt und ich sah ihre Augenbrauen, die ganz dünn waren, wie mit blassem Bleistift hingetupft und ich sah Lulus Augenbrauen, die voll und dicht geschwungen waren.

"Nichts ist das alles ohne das Gefühl."

Jetzt fixiertest du uns, Lulu, wie eine Katze ihre Beute.

"Und das Gefühl muss brennen, stechen, weh tun, rasen, sich durch meinen Leib winden, an mir reißen, zerren, mich festhalten, verschlingen, und natürlich kann das nicht halten, natürlich vergeht das, um es wieder von neuem zu suchen und allein die Suche, die Sehnsucht ist tausendmal mehr als das Glück eines Zuhause, was in Wahrheit gar kein Glück ist, sondern Trugbild, was wir uns vormachen, weil wir faul geworden sind zu suchen, weil wir es uns lieber in der Moral bequem machen, die uns Sicherheit gibt. Und so natürlich auch dem ganzen System. Ob es jetzt das Dorf ist oder das große Ganze."

"Jeder will doch einfach nur in Ruhe leben."

Jenny versuchte zu beschwichtigen, die Woge von Schmerz zu lindern, die aufbrach in Lulus Stimme, ganz plötzlich, und nichts war mehr übrig geblieben von dem leicht prasselnden Kichern und Tuscheln von vorhin. Lulu aber wollte nichts lindern.

"Ich nicht. Und du, Paul. Willst du auch einfach nur in Ruhe leben?"

Deine Stimme umschlang mich, zog sich um meinen Hals, riss mir mit scharfen Fingernägeln die Lippen auseinander, die zugegebenermaßen am liebsten schweigend ruhten.

"Nein, das will ich nicht. Das kann ich auch gar nicht."

Ich sagte das, weil ich das sagen musste und weil es in diesem Augenblick stimmte. Und ich redete weiter.

"Die alltägliche, bürgerliche Gewalt hat uns klein gemacht und angepasst. Aber sie steckt in uns. Diese bürgerliche Gewalt in uns müssen wir bekämpfen. Sie umwandeln in Energie. Nur das macht uns frei. Dauerhaftes Glück kann es nur geben, wenn wir konsequent gegen das System kämpfen, das uns gefangen hält."

Ich strahlte Lulu an. Jenny argumentierte:

"Ja, ja, das klingt alles ganz gut. Aber was ist so schlimm daran, einfach nur sein Leben zu leben? Und das mit anderen zusammen? Wir sind doch dafür gemacht, mit anderen zusammenzuleben. Und dafür braucht man doch eine gewisse Verlässlichkeit, Vertrautheit. Lulu, wir können uns doch auch aufeinander verlassen und vertrauen uns. Das ist doch nicht einfach nur eine Sache des Augenblicks. Und dann, vergessen und vorbei, egal, auf nimmer Wiedersehen."

Es setzte Schweigen ein, und in das Schweigen grollte von fern ein Donner des herannahenden Gewitters. In das tiefe rollende Grollen begannen die Glocken in der Dorfkirche mit dem Fünf-Uhr-Läuten. Lulu drehte sich zur Seite, blieb aber auf der Wiese und stützte den Kopf in die Hand.

"Wenn wir Sonntagnachmittags im Dorf spazieren gehen, was sehen wir dann? Zäune und saubere Vorgärten. Selbstverständlich ist der Bürgersteig und Hof gefegt. Vom Vortag. Wenn schönes Wetter ist, sieht man ab und zu ein älteres Ehepaar nebeneinander im Gartenstuhl sitzen und schweigend vor sich hinstarren. Oder man sieht Kinder auf dem Hof mit Spielzeug, beobachtet von Vater und Mutter, und Befehle schwirren über den Hof: Pass auf dieses und jenes auf, mach das nicht, Vorsicht, das tut man nicht und so weiter. Und vielleicht riecht es irgendwo nach Kaffee und Kuchen. Das ist die Moral, die uns das sehen lässt und das im Verborgenen nicht sehen lässt. Das Kindergeplärr, die Schläge, und irgendein Onkel, der seine kleine Nichte fickt. Und für die ist dieser Sonntagnachmittag ein Weltuntergang. Oder ganz woanders. Irgendwo in Afrika. Nomadenstämme am Fuße des Kilimandscharo, denen das Wasser gestohlen wurde, damit es uns gut geht, vermeintlich gut geht. Dabei geht es nur um den Profit, weil das Wasser für den großflächigen Anbau von irgendwelchen Blumen für den westeuropäischen Markt gebraucht wird. Die Welt geht jeden Tag unter. Die Apokalypse ist alltägliche Realität. Das können wir sehen, wenn wir Sonntagnachmittags im Dorf spazieren gehen."

"Dafür kannst du doch nicht den Menschen hier im Dorf die Schuld geben. So einfach ist das nicht."

Jenny widersprach ihrer Freundin, und jetzt donnerte es bedrohlich nah.

"Die Zusammenhänge sind so offensichtlich, dass es jeder wissen kann, der es nur will. Keine komplizierte Wissenschaft, einfach nur Verdrängung."

Am Horizont war ein Blitz zu sehen, ich kriegte Angst, rührte mich aber nicht. Jenny stand auf und sagte:

"Das Gewitter ist da. Endlich. Ich geh rein."

"Ich geh dann gleich nach Hause."

Lulu blieb jedoch auf der Wiese hocken, während Jenny zügig Richtung Haus ging. Ich saß weiterhin auf der Bank. Wieder donnerte es krachend, die ersten Tropfen fielen. Dicke, einzelne Tropfen, wie zufällig ausgeschüttet, aber schnell wurden es mehr und man roch den Regen auf der trockenen Erde. Ich konnte mich nicht rühren. Als wäre ich festgewachsen auf dieser Bank unter dem Kirschbaum. Windböen schlugen mir den Regen ins Gesicht, Blätter und kleine Zweige fielen vom Baum.

"Komm."

Lulu rief nach mir. Sie lag ausgestreckt auf der immer feuchter werdenden Wiese. Ich sah wie das Wasser über ihren Körper rann.

"Komm."

Lulu, du riefst nach mir. Und das Gewitter löste mich aus der Erstarrung, der Regen ließ mich von der Bank gleiten, hin zu dir, Lulu.

 

Komm in das Licht

Komm an mein Gesicht

Schenk meiner Haut

Deine Hände

Schenk meiner Brust

Deine Lippen

Komm in das Licht

Fürchte dich nicht

 

Du hattest dein rotes Stirnband vom Kopf gezogen. Deine Haare klebten auf meinem Gesicht. In der nassen Wiese schwamm dein Leib mit meinem. Wir zerbarsten in einem Blitz. Unsere Haut verglühte. Noch fühlten meine Fingerspitzen deine Nase, deinen Hals, deine Brust, deine Schenkel, deinen Schoß, deinen Bauchnabel, bis sie darin verschwanden. Bis der Regen nachließ, schließlich aufhörte.

Von dem Kirschbaum tropfte es auf die Bank. Die trockene Erde war schlammig geworden und der Schlamm auf unsere Gesichter, Arme, Beine, gespritzt. Wir waren durchnässt und lagen aneinandergeschmiegt im Gras.

Deine Lippen, Lulu, küssten den Gewitterregen auf meinen Mund. Und schickten Worte hinterher, ganz leise und zärtlich, als könnten sie zerbrechen.

"Liebe existiert nur im Augenblick. Eiskalte Finger auf meinem glühenden Bauch, die Wärme der Haut überall gleichzeitig, diese unvergleichliche Wärme, die es nirgendwo sonst auf der Welt gibt, als in der Gleichzeitigkeit der nackten Haut. Und wenn es vorbei ist, beginnt die Suche von Neuem. Weil, es hört auf. Wenn der Augenblick vorbei ist, hört es auf, für immer. Das kann keine Moral verhindern. Aber die Moral verhindert, dass wir wieder zu suchen beginnen. Ich muss jetzt nach Hause, Paul. Und aufpassen, dass mich keiner sieht. Mein Vater macht mich sonst tot."

 

Du legtest deine Finger auf meinen Mund, damit ich nichts sagte. Aber es gab ja auch nichts zu sagen. Jetzt gab es auch nichts mehr zu sagen.

 

 


Die Nacht ist so still

Dass ich nichts

als deinen Herzschlag hör

 

Die Nacht ist so dunkel

Dass ich nichts

Als deine Augen seh

 

Die Nacht ist so verlassen

Dass ich nichts

Als deinen Atem spür

 


Aus Teil 3:

 

Das Lindenhaus stand leer, Beate und die Landkommune lebten nicht mehr hier, wie Lulu in Erfahrung gebracht hatte. Als wir in Richtung Dorf fuhren, kurz bevor es dunkel wurde, zogen urplötzlich riesige Wolkenberge am Horizont auf. Eben war es noch ein sonnenklarer Tag gewesen, jetzt färbte sich der Himmel in immer tiefdunkleren Blautönen. Und dazwischen gemischt das Rot der untergehenden Sonne, woraus eine schier endlose Vielfalt von Farbschattierungen wuchs. Man konnte kaum wegsehen und musste sich sehr konzentrieren, um im Straßenverkehr zu bleiben. Lulu wollte selbst fahren, ich überließ ihr das Auto, sie steuerte es gemächlich über die schmaler werdende Landstraße, während ich aus dem Fenster in den Himmel starrte. Wir parkten am Rande des Dorfes, einer kleinen Einbuchtung Richtung Sportplatz und achteten darauf, dass auch ein breiter Traktor noch vorbeikam. Dann gingen wir auf dem Feldweg um das Dorf herum und gelangten von Richtung Wald zum Lindenhaus. Es war als schlichen wir uns heran, in der Abenddämmerung, zwei streunende Wölfe, ausgeschlossen aus dem Rudel, eigentlich auf sich allein gestellt, jeder für sich, aber jetzt trieben sie sich zu zweit durch die Gegend, witterten etwas, ohne zu wissen was. Oder waren sie heimgekehrt?

Es war klar, Lulu wollte niemandem im Dorf begegnen. Ob sie erkannt worden wäre? Das Lindenhaus schien schon lange leer zustehen. Die Haustür war nicht abgeschlossen. Es war noch eine alte doppelflügelige Holztür, die man auch von außen öffnen konnte, wenn sie geschlossen war. Sie sah eigentlich noch ganz gut aus, aber im Untergeschoss waren an einigen Fenstern die Läden offen und die Scheiben zerbrochen. Alle Fenster hatten von jeher Fensterläden, sie waren auch noch alle erhalten, wir schlossen die, die geöffnet waren und leicht im Wind knarrten. Für einen Moment war es vollständig dunkel im Haus. Es roch modrig vom Keller her. Die Türe zur Kellertreppe stand offen. Es raschelte. Bestimmt lebten hier Mäuse. Vielleicht auch Marder oder Waschbären. Egal. Lulu zündete ihr Feuerzeug an, wir gingen in die Küche und fanden Kerzen. Der große lange Küchentisch stand noch immer hier. Er sah so ordentlich aus, als habe Beate eben hier aufgeräumt. Allerdings war die Staubschicht auch im Kerzenlicht unübersehbar.

 

Sind wir schon gemeinsam in anderen Abbruchhäusern gewesen, Lulu? Warst du dabei, als ich, auf unserer Klassenfahrt in London, einen ganzen Tag im Hafenviertel verbrachte?

Die Lehrer hatten uns ohne Begleitung in die Stadt gelassen, ich mochte nicht mit den anderen in den Bars um Piccadilly herumhängen und hatte mich allein abgesondert. An der Themse gab es jede Menge verlassene Backsteingebäude, ehemalige Lagerhäuser mit eingeschlagenen Fensterscheiben, durch die ein scharfer Wind pfiff und wenn eine Türe offen stand, konnte man sich hineinschleichen, in die feuchte, dumpfe Dunkelheit, in die es tropfte und raschelte und doch so feierlich still war, wie in einer der großen Kathedralen der Stadt. Bis dann in den Kathedralen irgendwelche Touristen leise miteinander zu sprechen begannen. Hier in den Lagerhäusern war man sicher vor dem kunsthistorisch interessiertem Getuschel und wenn man dann nach einer Weile wieder hinausging, spürte man die ganze Wärme und lichte Schönheit des Tages als etwas ganz besonderes. Immer wieder zog es mich danach in Abbruchhäuser.

In Campden, USA, waren es ganze Straßenzüge, die zerfallen waren, die ich aber nur von außen betrachtete und vor allem nur tagsüber, denn mir wurde gesagt, ich solle auf jeden Fall zu Hause sein, wenn es dunkel würde, denn dann sei die Gegend äußerst gefährlich und manchmal hörte man tatsächlich Schüsse. Wenn ich dann in einem MacDonalds saß und Kaffee trank (hier waren die MacDonalds und Burger Kings Restaurants und Cafés zugleich), war ich zumeist der einzige Weiße unter Schwarzen und Hispanics.

Kurze Zeit später sah ich die gleichen zerfallenen Straßenzüge in Halle an der Saale und ich verstand, was die beiden vermeintlich gegensätzlichen Systeme gemeinsam hatten. Aber in Halle an der Saale führtest du mich in eine alte verfallene Mühle, Lulu. Direkt an der Saale gelegen und das war weiß Gott eine andere Mühle, als die, welche ich vom Dorf her kannte. Über fünf Stockwerke hoch, groß wie eine Fabrik, verblasstes Backsteingemäuer, manchmal fehlten ganze Steine in der Wand und es roch nach Mehl als wir vorsichtig, Stufe für Stufe, Stockwerk für Stockwerk, über Holztreppen nach oben stiegen. Und es roch nicht nur nach Mehl, es lag auch überall noch Mehl herum, schneeweißes, feines Mehl, in aufgerissenen Säcken, vom Wind verstreut auf dem Beton, wie feiner weißer Sand am Strand und schnell hing es an unseren Schuhsohlen, man sah es hinter unseren Schritten. Du hattest mich einfach angesprochen, Lulu, in einer Kneipe am Abend davor, als ich allein am Tisch saß und unentwegt vor mich hin schrieb, wahrscheinlich bei einem Weißwein, ich weiß es nicht mehr so genau, ich weiß auch nicht mehr so genau, was ich geschrieben habe, aber irgendwann setztest du dich einfach zu mir an den Tisch und fragtest mich, was ich denn da schreiben würde. Eigentlich warst du ja Kellnerin in dieser Kneipe und hattest mir vorher den Wein gebracht, vielleicht auch einen Kakao, diese Kombination ist durchaus nicht unwahrscheinlich, aber diese Kneipe wurde ja von euch einfach so selbst gemacht, von dir und deiner Clique. Ihr hattet dieses Abbruchhaus am Rande der Innenstadt, an einer kleinen Seitenstraße, einer dieser Straßen, wo ganze Häuserblöcke verfielen, besetzt, hergerichtet, mit Möbeln von irgendwoher, und schon war es eine Kneipe, ein Café, ein Buchladen, es gab Lesungen, kleine Konzerte und es war die Zeit, in der es die alte DDR nicht mehr gab und die BRD das Land noch nicht in Besitz genommen hatte. Klar, dass ich da in eure Kneipe kam, Kakao und Wein trank und unentwegt vor mich hinschrieb. Nicht ohne dich anzusehen, Lulu, natürlich nicht, ohne dich anzusehen. Und klar schlug mir das Herz bis zum Hals, als du dich zu mir setztest und aufhörtest die Kellnerin zu sein und mich fragtest:

„Was schreibst du da eigentlich die ganze Zeit?“

„Was ich hier so sehe. Es gibt so viel zu sehen hier und ich muss das aufschreiben.“

„Lässt du es mich lesen?“

Ich schluckte. Ich weiß nicht mehr genau was ich geschrieben habe, aber natürlich warst du die Hauptperson, Lulu, von dir habe ich immer geschrieben, wenn ich geschrieben habe und dich habe ich immer gesehen, wenn ich etwas gesehen habe.

„Meine Schrift kann man schlecht lesen. Ich überarbeite es noch mal und dann kannst du es lesen.“

„Ja, diese Schrift lässt sich wirklich nicht lesen.“

Du schautest mir über die Schultern auf meinen kleinen karierten Notizblock und lächeltest. Ich spürte deinen Arm auf meiner Schulter.

„Hast du morgen Zeit? Bist du noch in Halle?“

„Ja, ich bin noch da.“

„Ich könnte dir was zeigen. Etwas ganz besonderes in Halle, einen besonderen Platz.“

„Ja, ja, gerne.“

Ich jubilierte, ich sang, ich tanzte, als ich in dieser Nacht sehr spät in einen tiefen, weichen Schlaf versank.

Du kamst tatsächlich. Ich hatte nicht wirklich daran geglaubt. Du zeigtest mir einen alten Friedhof mitten in der Stadt, mit Efeu zugewachsenen Grabsteinen, verwitterten Inschriften und Engelsbildern. Ja, ja, das mit den Engelsbildern, die ich immer auf den Friedhöfen der großen Städte suche, das muss wohl damals angefangen haben.

Wir sahen sie uns gemeinsam an und du sagtest:

„Diese Engelsbilder sind dann von besonderer Schönheit, wenn sie nicht perfekt sind, wenn ihr Blick etwas schief ist, eine kleine Ungleichmäßigkeit in den Augen, eine winzige Verwitterung um den Mund. In Stein gehauene Engelsbilder haben immer diese minimalen Unregelmäßigkeiten und gerade das macht sie schön.“

„Schön wie du, Lulu.“

Du gingst nicht weiter darauf ein und wir saßen nebeneinander auf einer Bank auf diesem Friedhof (selbst das Holz der Bank war verwittert und morsch) und du rauchtest  eine Zigarette. Ich rauchte nicht mit, ich sah dir nur zu. Und dann brachtest du mich an den Rand der Stadt, zur alten großen Mühle an der Saale, von wo aus man die endlosen Plattenbauten von Halle-Neustadt sehen konnte.

 

Ich werde mit dir

Auf einem verlassenen Friedhof sitzen

Und unsere Namen

In eine vermoderte Bank einritzen.

 

Ich kenne dich aus einem Traum

Vor langer Zeit

Du bist wieder da

Und ich bin bereit

 

Aus dem Mühlentor wächst

Der Schimmel, bunt und weich

Es glitzert der Fluss in der Ferne

Hinter dem Deich.

 

Das Mühlengebäude ist leer

Wir huschen die Treppen hinauf

Rennen, lachen, sind außer Atem

Und stöbern die Tauben auf.

 

Es riecht vermodert, ist duster

Der Stein zerbröckelt, die Treppe bricht

Wir erreichen die Deckenluke

Und steigen hinaus in das Licht.

 

Wir hocken auf

Verfallenem Backstein

Hoch oben auf dem Dach

Dort sind wir allein.

 

Hören die Brandung vom Meer

In hohen lichten Bäumen

Und ruhen uns aus

Während wir miteinander verträumen.

 

 

Lulu und Paul saßen sich gegenüber an dem langen, aufgeräumten, staubüberdeckten Holztisch. Paul hatte sein schwarzes Jackett über den Stuhl gehängt und sich die Ärmel seines weißen Hemdes hochgekrempelt. Es passte zu Lulus schwarzem Spitzenkleid, welches sie heute wieder trug, fand er jedenfalls, auch wenn beides für einen Ausflug in ein Abbruchhaus ihm nicht angemessen schien.

Die Gestalt von Beate tauchte vor ihren Augen auf. Lulu erinnerte sich:

„Ich sitze in der Lindenhaus-Küche und schaue nach draußen. Die Bäume blühen im Frühling. Ich schließe die Vorhänge. Im matten Dämmerlicht höre ich nichts als die Stille. Der Küchentisch ist riesig. Ich sehe zu ihm hinauf, als sei ich ein kleines Kind.“

(…)

 

„Wenn Beate Kaffee nachschenkte, nach dem Frühstück, lief Keith Jarretts Köln-Konzert im Hintergrund“, sagte Paul leise, gedankenverloren und sah Lulus Gesicht im schwankenden Kerzenschein.

„In den Genuss kam ich nur selten, erinnere mich kaum. Jenny und ich mussten ja in die Schule, und da war Beate streng, traute man ihr auf den ersten Blick gar nicht zu, streng zu sein, aber sie lächelte freundlich und befahl, da konnte man nicht widersprechen. Deshalb haben wir damals auch beide nichts gesagt, als wir fortgingen.“

„Und ihr seid einfach so weg?“

„Mein Alter hätte mich nicht gelassen. Mit Gewalt nicht.“

„Aber Beate.“

„Wir wären ihrem Blick, ihrem warmen, behutsamen Beschützerblick nicht entkommen, natürlich nicht. Aber wir haben gar nicht daran gedacht, Jenny und ich, jedenfalls ich nicht, Jenny vielleicht doch, aber gesagt hat sie nichts, es war klar, wir gehen jetzt, jetzt und sofort und ohne Wiederkehr und ohne Blick zurück, nur so kann man gehen.“

„Wenn ich Beate vor mir sehe, dann rieche ich immer diesen Kaffee, aber erst wenn er aus der großen Warmhaltekanne in die Tasse fließt und ich höre die Musik im Hintergrund. Man hatte das Gefühl nicht aufstehen zu können. Wie festgewachsen auf dem Stuhl, obwohl diese alten Holzstühle hier ja nun nicht gerade besonders bequem waren, irgendjemand plauderte irgendwas, nicht besonderes, und doch wurde man festgehalten. Man vergaß buchstäblich die Zeit. Das ging manchmal so lange, bis sich Beate ums Essen kümmern musste. Sie verschwand abrupt, Richtung Garten oder Einkaufen, Keith Jarrett war abgelaufen, niemand legte nach und so verstreuten sich die Gebliebenen. Ich ging in mein Zimmer, putzte mir die Zähne und lüftete, aber nur solange ich dabei stand und aus dem Fenster sah, denn unter dem Dach trieben sich immer Tauben herum und ich wollte nicht, dass eine Taube durch das offene Fenster ins Zimmer flog. Wenn ich ging, ließ ich das Fenster nur gekippt, nie offen. Ich fürchte mich vor dem Geflatter eines Vogels im Zimmer. Es versetzt mich geradezu in Panik. Eine meiner Cousinen hatte einen Wellensittich, den ließ sie immer in ihrem Zimmer frei fliegen, wenn sie zu Hause war. Ich suchte und fand dann schnell einen Vorwand um zu gehen. Die Vorstellung, dass mir ein Vogel auf den Kopf fliegt, ist so wie für Menschen mit Spinnenphobie eine fette schwarze Spinne in ihrem Bett zu finden. Was meinst du Lulu, ob die Tauben oben das Stockwerk in Beschlag genommen haben? Lass uns nachsehen. Du musst aber mitkommen, alleine traue ich mich das nicht.“

Lulu lächelte und nahm Pauls Hand, die Hand eines ängstlichen Jungen.

„Ich bin ja bei dir.“

Und Paul, der ängstliche Junge, fasste Mut. Die feuchte Wärme in der Hand durchströmte und beflügelte ihn. Er stand auf und die beiden machten sich auf den Weg zu gefährlicher Erkundungsmission, zwei Späher in einer fremden Höhle, in der unbekannte Gefahren zu erwarten waren. Sie stiegen, beide eine Kerze in der Hand, die Treppe hoch, dicht beieinander, Schulter an Schulter und durchsuchten Zimmer für Zimmer. Alles blieb ruhig. Keine Taube, kein sonstiger Vogel, keine Maus. Die Fensterläden waren alle sorgfältig geschlossen, die meisten Zimmer leergeräumt und auf den ersten Blick sauber. In Jennys ehemaligem Zimmer wollte Lulu nicht bleiben. Sie warf nur einen kurzen Blick hinein, drehte sich um und blieb vor der Tür stehen. Aber es war auch nichts mehr in dem Zimmer, nicht einmal ein Bild an der Wand. In einigen der ehemaligen Gästezimmer gab es aber noch Kleiderschränke, kleine Tische, Stühle und Betten. Sie blieben in dem Zimmer, in dem Paul meistens gewohnt hatte, und öffneten einen Fensterladen einen Spalt breit. Kahles Mondlicht fiel mit schmalem Strahl herein und legte sich auf die Überdecke des Bettes. Lulu schlug die staubig gewordene Decke zurück und setzte sich auf das Bett. Kissen und Bettdecke sahen noch erstaunlich sauber aus, wenn sie auch nicht gerade frisch bezogen rochen. Paul schien dem Tauben-Frieden noch immer nicht so ganz zu trauen und sah sich alle Ecken des Zimmers und natürlich auch das Innere des Schrankes ganz genau an, bevor er sich beruhigt zu Lulu setzte.

Dann erzählte er wieder von einem Abbruchhaus:

„Im Hamburger Hafen bin ich auch mal in ein Abbruchhaus geraten. Ich fand es nach kurzem Gang entlang feiner Möbeldesignläden und Touristenrestaurants mit Biergarten. An einem Baukran auf der anderen Straßenseite hing ein Ruderboot frei in der Luft, wie an einem Galgen. Ich umrundete das Haus. Auf dem hinteren, schmalen Weg war kein Mensch zu sehen.

Eigentlich hatte ich Angst hineinzugehen. Man konnte schon von außen, an der ganzen Vogelscheiße sehen, dass sich darin bestimmt die Tauben ausgebreitet hatten. Ich blieb stehen und betrachtete das freistehende, dreistöckige Gebäude. Dann durchsuchte ich den Bauzaun nach einer Lücke. Ihn zu überklettern traute ich mich nicht. Nach ausdauernder Suche fand ich eine Stelle, wo die metallenen Zaungitter nicht fest miteinander verbunden waren. Ich konnte sie ein wenig auseinanderziehen und hindurch schlüpfen. Im Innern des Hauses lagen Bretter und Scherben. Vorsichtig durchstöberte ich die einzelnen Zimmer. Nicht mehr identifizierbare Möbelreste, Stofffetzen und Getränkedosen waren dort zu finden. Je weiter ich nach oben vordrang, desto zahlreicher wurden die Tauben. Sie schienen das Haus in Besitz genommen zu haben. Böse flatterten sie auf mich zu, als ich das dritte Stockwerk erreicht hatte. Es stank fürchterlich. Mir wurde schlecht.

Trotzdem ging ich weiter. Bis aufs Dach. Teile der Ziegel waren herausgebrochen, man konnte durch die Balken ins Freie sehen. Unter und neben mir wimmelte es von gurrenden, fetten Tauben. Meine Schuhe standen auf einer stinkenden Masse von Kot, welche die oberste Decke des Hauses vollständig zu überdecken schien.

Ich sah über die Kräne des Hafens hinweg in die Ferne. Ein Containerschiff fuhr langsam aus dem Hafen heraus. Wenn ich ein großes Schiff beobachte, wie es über das Wasser gleitet, sehe ich mich an Deck stehen, eine Schürze umgebunden, mit Kochmütze und diesem selbstvergessenen Blick in die Ferne. Als Kind wollte ich immer Schiffskoch werden und in die weite Welt hinaus.“

 

Lulu drückte meine Hand, das alte Bett knarrte.

„Diesen Blick hast du auch so. Hattest du auch damals schon. Diesen traurigen Blick in die Ferne.“

„Bin ja doch nicht Schiffskoch geworden. Habe bei der Zeitung angefangen.“

„Ich weiß. Und bist dann später auf diese Weise viel herumgekommen. Aber weißt du was: Wer traurige Geschichten erzählt, kann in Wahrheit gar nicht traurig sein, sonst würde er nicht erzählen. Ja, ich habe das durchschaut, unbewusst damals schon. Heute weiß ich es, denn ich bin schlau.“

Und Lulu sprang auf und grinste mich mit übertriebener Grimasse an.

„Sonst hätte ich mich nicht bei dir gemeldet nach so vielen Jahren. Außerdem habe ich auch traurige Geschichten zu erzählen und bin nicht traurig. Zornig und verzweifelt. Das trifft es eher. Das Haus hier ist traurig. Das Lindenhaus. Bald werden es die Ratten und die Tauben in Besitz genommen haben. Wenn es Beate jetzt so sehen würde. Es würde ihr das Herz brechen. Sie war so stolz auf jedes Detail, was sie geschaffen hat. Stolz hätte sie natürlich nie zugegeben, passte nicht in ihr Weltbild. Dabei hielt sie das Haus zusammen, auch wenn noch so viele Typen hier lebten. Wie sie das wohl verkraftet hat, dass Jenny weg ist? Ob sie mich dafür gehasst hat? So wie mein Alter Jenny gehasst hat oder eigentlich Beate und sowieso das ganze Lindenhaus. Am liebsten hätte er es einfach angesteckt damals, es wird ihm eine Freude sein, zu sehen, wie es zerfällt, wenn er denn überhaupt noch lebt, keine Ahnung, ich bin weg für immer, da gibt es keine Rückkehr mehr, nie mehr, auch jetzt nicht. Nein, Beate hat mich nicht gehasst, ganz bestimmt nicht, das konnte sie gar nicht, ist bestimmt in die Küche, damals, als sie das gehört hat von uns, hat Essen gekocht für alle, wollte niemand dabei haben und hat die Tränen laufen lassen, wahrscheinlich beim Zwiebelschälen.“

„Nein, Beate hat dich nicht gehasst, das weiß ich. Ich war ja auch noch mal da, im Lindenhaus, kurz nachdem ihr weg seid, damals. Habe sie bei ihren Bienen getroffen. Wir hatten ein wunderbares Gespräch, sie hat mir aus ihrer Jugend erzählt. Sie konnte dich gut verstehen, sie hat sich nur danach gesehnt, Jenny wieder zu sehen.“

„Aber warum warst du denn noch mal da?“

„Warum wohl? Weil ich dich wiedersehen wollte natürlich. Nichts habe ich mir so sehr gewünscht, wie dich wiedersehen, im Grunde auch all die Jahre, egal was ich gerade gemacht habe. Ich habe mich immer nach dir gesehnt.“

„Rede nicht so. Ich möchte nicht, dass du so redest.“

Also schwieg ich und blickte, die Hände aufs Bett gestützt, vor mich hin. Bis ich weiter fragte:

„Und was dann später aus Beate geworden ist, weißt du also auch nicht. Hat denn Jenny auch jeden Kontakt abgebrochen?“

„Am Anfang hat sie sich kurz bei Beate gemeldet und gesagt, dass wir in Berlin sind, aber sie soll uns nicht suchen.“

„Und dann? Was ist überhaupt eigentlich mit...“

Lulu presste mir ihre Hand auf den Mund. So heftig, dass es für einen Moment weh tat und ich ihren Arm im Reflex zurückschlug. Dann legte sie ruhig zwei Finger auf meine Lippen.

„Frage nicht, bitte“, sagte sie zunächst leise, dann schrie sie mich an.

„Du sollst nicht fragen. Du sollst nicht nach Jenny fragen. Habe ich das nicht von Anfang an gesagt. Du sollst nicht fragen. Habe ich das nicht gesagt. Aber nein, du musst natürlich trotzdem fragen. Du Idiot. Du Arschgesicht.“

Lulu nahm ihre Hand von meinem Gesicht, stieß mich weg, schlug auf mich ein, dass ich schützend meine Hand vor das Gesicht nahm, hielt inne und versetzte mir dann  noch einen kräftigen Schlag auf den Rücken.

„Deshalb habe ich mich all die Jahre nicht gemeldet. Weil ich wusste, du würdest diese Frage stellen, irgendwann, unausweichlich: was ist eigentlich aus Jenny geworden? Gib mir etwas Zeit. Bitte. Ich will es ja erzählen.“

Und Lulu umschlang mich mit ihren Armen von hinten und presste sich fest an meinen Rücken.

„Ich musste mich jetzt bei dir melden. Bei niemand anderem hätte ich mich melden können. Weil ich konnte nicht mehr. Zornig und verzweifelt. Nicht traurig. Du hast dich nicht verändert. Deshalb bin ich jetzt bei dir. Komm, ich will dich ansehen.“