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Männer, Briefe, Depressionen


Nora Leminki: Männer, Briefe, Depressionen

Roman, 190 Seiten, ISBN: 978-3-9802133-6-3

12,00 Euro


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Gabi ist überarbeitet, leidet unter Burn Out; einige von Gabis Ärzten nennen es sogar Depression und schicken sie zur Kur.
Dort angekommen, sieht Gabi sich mit Mitmenschen konfrontiert, denen sie im Normalfall lieber aus dem Weg gegangen wäre. Aber sie wird auch erinnert an verschiedene Männer, die sie durch eine Kontaktanzeige kennengelernt hatte...


 

Texauszüge




Ein Alptraum.
Ein schrecklicher, widerlicher, ganz furchtbarer Alptraum, dachte ich, und kniff mich verstohlen in den rechten Arm.
Leider geschah daraufhin nichts. Zumindest nicht das, was ich mir wünschte.
Nämlich aufzuwachen.
Ich saß in einem Taxi, und der Lichtstrahl seiner Scheinwerfer suchte sich einen Weg durch einen mir endlos vorkommenden Wald. Mittlerweile war es tatsächlich ganz dunkel draußen, und ich wusste nicht, ob ich das gut oder schlecht finden sollte. Als das Taxi am Bahnhof abfuhr, war es zwar noch hell, aber es regnete geradezu junge Hunde, und das, was ich sehen konnte, war wirklich deprimierend: Nachdem ich dem Taxifahrer mein Fahrtziel genannt hatte, hatte er wissend genickt, den Wagen gestartet und ihn geschickt zwischen parkenden Bussen und wartenden Menschen hindurch manövriert, und die Bahnhofsgegend, durch die wir nun fuhren, gehört vermutlich, wie ich fairerweise zugeben muss, in keiner Stadt zur Wohngegend der Upper Class. Unschön anzusehende, schmuddelige Bauten reihten sich aneinander, die Häuserfront wurde hier und da unterbrochen durch Kioske und Stehbierhallen. Ein kleines Lokal, in welchem ich, das sah ich ihm bereits von außen an, vor Ekel niemals einen Bissen herunter bekommen hätte, war auch darunter, gerade entleerte ein Penner an der Hausecke seine Blase.
Nahtlos an das Bahnhofsviertel schlossen sich dann braune und graue Häuserblocks an, pro Hauseingang jeweils zwei mal vier Wohnparteien, höchstens die Hälfte davon bewohnt, so schätzte ich im Vorbeifahren; die Fensterscheiben waren teilweise zerbrochen. Verwilderte Vorgärten, in denen verrostete Metallwannen neben Bauschutt und umgefallenen Eimern lagen, von Unkraut überwucherte Sandkästen ergänzten das verwahrloste Bild. Danach ging es vorbei an zahllosen verlassenen und vor sich hin verfallenden Kasernen mit hohen Zäunen davor, auf deren Oberkante sich Stacheldraht schlängelte - und dann kam nur noch Wald. Seit ich am Bahnhof angekommen war, war gerade mal eine knappe Stunde vergangen, aber in diesem Zeitraum hatte sich jegliches Tageslicht verzogen, was man ihm zu dieser Jahreszeit, es war nun einmal fast Ende November, auch nicht verübeln konnte.

Der Taxifahrer plauderte mittlerweile munter vor sich hin. Nach seiner anfänglichen schweigsamen Konzentration war er nun in zweierlei Hinsicht richtig in Fahrt, es schien ihn gar nicht zu interessieren, ob ich ihm zuhörte oder nicht. Er referierte gerade über die Möglichkeiten, die sich in diesem Gebiet zur Freizeitgestaltung boten, und ich widmete ihm für einen kleinen Moment meine Aufmerksamkeit: "Wandern, wandern, und ..." - er legte eine kurze Pause ein, um die Spannung zu erhöhen - "... wandern." Darüberhinaus war offensichtlich kein Angebot in der Region vorhanden. Na prima. Zuvor hatte er mir, wie ich mit einem Ohr mitbekommen hatte, von den Stars und Sternchen berichtet, die sich in dieser Gegend angesiedelt hatten, und der in seiner Stimme mitschwingende Stolz war wirklich nicht zu überhören; geradezu so, als wäre er selbst und ganz allein dafür verantwortlich, all die Prominenz in diesen Landstrich geholt zu haben. Es war mir ein Rätsel, dass irgendjemand freiwillig hier leben wollte, und dass ausgerechnet diese Leute, die doch ganz eindeutig zu den Wohlhabenden gezählt werden und sich daher ihren Wohnort aussuchen konnten, dazugehörten, konnte ich beim besten Willen nicht glauben; deswegen hatte ich zwischendurch wieder weggehört. Wozu sich Lügengeschichten anhören? Andererseits war dieser Taxifahrer der erste Mensch, der an diesem Tag überhaupt mit mir sprach, denn ich war vor ziemlich genau 10 Stunden zuhause in den Zug eingestiegen und seitdem nur schweigsamen oder unfreundlichen Mitmenschen begegnet; von daher gehörte ihm ein kleines Quentchen Sympathie.

Das Taxi bahnte sich weiter seinen Weg durch den Regen und die Dunkelheit, und ich hing meinen Gedanken nach, als plötzlich am Wegesrand ein Schild auftauchte: Thomas-Mann-Krankenhaus, 100 m rechts. Oh Gott, wir waren gleich da!
Wir bogen wie geheißen rechts ab, doch auch jetzt ging es noch eine ganze Weile durch den Wald - ich schätzte, dass es sich um annähernd einen Kilometer handelte, und dann erschien mitten im Wald die Klinikseinfahrt: Eine große hellgraue Mauer wurde durch ein langes weißes Tor unterbrochen, welches, wie von Zauberhand geöffnet, nach rechts wegrollte und uns den Weg freigab, während wir uns ihm näherten. Als wir hindurchfuhren, sah ich links eine Kamera und eine Sprechanlage. Da wir darüber nicht in Kontakt mit jemandem getreten waren, ging ich davon aus, dass  man mich wohl bereits erwartete.
Der Fahrer fuhr bis zu einem kleinen Wendeplatz vor das Kliniksportal und verlangte nun 37 Euro von mir - 37 Mäuse, so ein Mist! Ich gab ihm 40 und zu verstehen, dass der Rest für ihn sei - so etwas machte ich gar nicht gerne. Nicht, weil ich geizig wäre, aber ich kam mir dabei immer so schrecklich großkotzig vor: nach dem Motto "Da hast Du 3 Euro, armer Mann, der Du Taxifahrer / Kellner / Friseur werden musstest!" Und ich hatte wirklich Respekt vor solch anständigen Berufen - weit mehr jedenfalls als vor zum Beispiel Lehrern, Ärzten oder Diplom-Ingenieuren.

Da stand ich nun mit meinem Handgepäck vor dem Portal der Klinik, in der ich die nächsten vier Wochen verbringen sollte. Da es wie aus Eimern regnete, zauderte ich nicht allzu lang und bewegte mich auf den Eingang zu. Die riesigen Glastüren fuhren nahezu geräuschlos auf, als ich darauf zuging, und wenige Schritte später stand ich in einem großen, achteckigen Raum, der in allen Schattierungen von grün regelrecht leuchtete. Grün waren hier nicht nur die Wände, die Fußböden und die darauf liegenden Teppichläufer, auch die Möbel waren es, und außerdem standen hier so unzählige Pflanzen, dass es ein bisschen an ein Gewächshaus erinnerte. Das wiederum war mir nicht unangenehm, ich liebe nicht nur Grünpflanzen, ich mag auch die Farbe grün an sich, und diese Eingangshalle hatte darüberhinaus auch noch etwas sehr Edles, ein bisschen wie im Luxushotel. Zumindest so, wie ich es mir in einem Luxushotel vorstellte, ich war nämlich noch nie in einem.
Etwas erschreckend fand ich jedoch, dass die Personen, die hinter der Rezeption herumstanden, auch in Grün gekleidet waren. Offensichtlich handelte es sich um eine klinikseigene Farbe, und ich fragte mich, ob die Unterwäsche, die die Angestellten trugen, auch grün sein musste, und wenn ja, ob das kontrolliert wurde und von wem.
Die grün Uniformierten starrten mich mittlerweile geradezu aufdringlich an, als wollten sie mich per Hypnose zwingen, doch endlich vor den Tresen zu treten und etwas Abwechslung in ihren grünen Tag zu bringen. Welch ein Glück, dass ich mich heute für eine dunkelgraue Flanellhose und einen schwarzen, mit Glitzerfäden durchzogenen Chenillepulli entschieden hatte, weil ich wenigstens an meinem ersten Tag hier einigermaßen seriös wirken wollte.
Die beiden grünen Damen stürzten sich förmlich auf mich und redeten durcheinander: Herzlich willkommen, sie haben ein Einzelzimmer, der Fernseher kostet 15 Euro die Woche extra, ihren Eigenanteil für den Aufenthalt bezahlen sie nächsten Montag in der Finanzbuchhaltung in der zweiten Etage, usw. usw. Ich konnte mir das nicht alles auf einmal merken, aber ich bekam gerade noch mit, dass ich mich jetzt sofort und auf der Stelle in der Patientenaufnahme im zweiten Stock zu melden hatte.
Das tat ich dann auch, pflichtbewusst, wie ich nun einmal bin: Ich ging zu den der Rezeption gegenüberliegenden Aufzügen und fuhr in die zweite Etage. Die Patientenaufnahme befand sich, wie ich auf einem Türschild las, direkt neben den Aufzügen, und die Tür stand offen. Eine junge, in grün gewandete Frau händigte mir, nachdem ich mich ihr kurz vorgestellt hatte, diverse Schriftstücke aus, unter anderem einen ganzen Stapel Fragebögen, die ich doch bitte bis zur Eingangsuntersuchung ausfüllen sollte, und diese sei um 18.15 Uhr bei Frau Dr. Rohde in Zimmer 317, und jetzt solle ich mich bitte erstmal im Schwesternzimmer in der dritten Etage melden.
Seufzend fuhr ich mit dem Aufzug in den dritten Stock, und als ich aus ihm heraustrat, stellte ich fest, dass offenbar noch einige andere Räumlichkeiten hier so achteckig wie die Eingangshalle waren: Auch dieser Raum war groß und vom Grundriss her stopschildförmig. Vermutlich verhielt sich das in der eben besuchten zweiten Etage auch so, aber weil sich die Patientenaufnahme direkt neben den Aufzügen befand, war mir dies nicht gleich aufgefallen. Ich sah mich suchend um, und da die Türen alle gleich aussahen, beschloss ich, rechts herum zu gehen und die Schilder zu studieren. Als ich beinahe einmal herum und fast wieder bei den Aufzügen war, fand ich auch endlich das Schwesternzimmer. In einer - natürlich grünen - Sitzgruppe neben der Tür lungerten zwei Frauen herum, eine noch sehr junge, höchstens 20 Jahre alt mit grauem Jogginganzug gekleidete und schüchtern wirkende, und eine vom Alter her schwer zu schätzende mit blondierter Pudeldauerwelle; sie trug glänzende Leopardenleggins und ein schwarzes T-Shirt, darauf war ein brüllender Löwe abgebildet, und seine Augen glitzerten durch aufgenähte Pailletten.
Doch bevor ich länger darüber nachdenken konnte, seit wieviel Jahren dieser Look out und ob er überhaupt jemals in gewesen war, flog die Schwesternzimmertür auf, und eine - welch Überraschung! - grün gekleidete, kleine, ältere Dame schoss aus dem Raum. Sie schoss wirklich, und ich zuckte erschrocken zurück. Die kleine Krankenschwester legte mir die Hand auf den Unterarm (den, in den ich mich während der Taxifahrt erfolglos gezwickt hatte), lachte freundlich und entschuldigte sich für ihre stürmische Art. Dann stellte sie sich uns vor, und ich begriff, dass die beiden Damen auf der Sitzgruppe auch Neuankömmlinge waren - das hatte mir der Taxifahrer schon erklärt: Freitags war Anreisetag, da fuhr er ein paar mal vom Bahnhof bis zum tief im Wald gelegenen Thomas-Mann-Krankenhaus. Das war auch der Grund für sein wissendes Nicken gewesen, als ich ihm eröffnete, wo meine Fahrt hingehen sollte.
Die Schwester hieß Hildegard, was mich nicht besonders verwunderte; im Gegenteil, alles andere hätte mich überrascht, schließlich hat man die Tatsache, dass die Schwester Hildegard heißt, schon vor vielen Jahren, bedingt durch das Ansehen etlicher Folgen der Schwarzwaldklinik, verinnerlicht.
Ihre Aufgabe am Ankunftstag der neuen Gäste war, ihnen die Gepflogenheiten der Klinik im allgemeinen und der Station im besonderen, die Rechte des Personals und vor allem die Pflichten der Patienten zu erläutern. Jedenfalls habe ich es so verstanden. Wir bekamen alle Türen im ganzen achteckigen Rondell gezeigt und gesagt, was sich dahinter befand, zum Beispiel ein Aufenthaltsraum, ein Bügelzimmer (bügeln? Ich werde doch hier nicht bügeln!?), ein Raum, in dem man seinen Müll sortieren konnte, es gab schwarze Bretter für Mitteilungen vom Personal an Patienten und solche für welche von Patienten an Mitpatienten, usw.
Als wir unseren eckigen Rundgang beendet hatten, wurden die anderen beiden Damen entlassen; sie waren wohl schon seit mittags da und hatten sich daher bereits häuslich eingerichtet. Ich hingegen wurde jetzt endlich zu meinem Zimmer geführt. Zunächst ging es noch ein Stockwerk nach oben. Auch hier: Ein Achteck, wie gehabt.
In vier der acht Ecken der Haupthalle jeder Etage gingen lange Gänge ab, die ich zuvor noch gar nicht bemerkt hatte. Hier befanden sich die Patientenzimmer. Schwester Hildegard ging in einen dieser Gänge hinein, und ich folgte ihr stumm.
Die Schwester hielt vor einem der Zimmer an und öffnete die Tür; als erstes schlug mir ein ekelerregender Mief entgegen. Dann betrat ich zögernd mein neues Domizil.

Zugegeben, richtig hässlich war es nicht, aber richtig schön eben auch nicht. Durch einen kleinen Flur, in dem sich die Garderobe, ein großer Spiegel, ein Wandschrank  und eine weitere Tür befanden, ging es in den eigentlichen, leider recht kleinen Raum. An der linken Wand standen ein Bett und ein Schreibtisch nebst dazugehörigem Stuhl, an der rechten ein kleiner quadratischer Tisch mit einem weiteren Stuhl und eine Kommode mit dem Fernseher darauf. Die Möbel hatten eine merkwürdige Farbe, wie helles Holz, das mit einer grauen Lasur gestrichen wurde, aber die Maserung schimmerte nach dem Anstrich trotzdem noch hindurch. Die Stoffbezüge auf Stühlen und Bett waren schweinchenrosa. Nun ja.
Vielleicht waren die textilen Anteile in den Zimmern, in denen die Männer untergebracht waren, hellblau? überlegte ich. Ich beschloss, dies bei nächster Gelegenheit zu erkunden und sah mich weiter um:
Geradeaus war die komplette Wand verglast, dahinter befand sich ein kleiner Balkon, und wenn man auf ihn heraustrat, konnte man sogar im Dunkeln erahnen, welch herrlicher Blick sich hier am Tage bot: Ein See lag idyllisch zwischen den Bäumen, wobei mir schlagartig wieder einfiel, dass ich mich hier mitten in einem Wald befand.
Die Schwester ließ mich alleine, und nachdem ich mir noch das kleine Bad angesehen hatte - zu ihm gehörte die weitere Tür im Flur - ließ ich mich erstmal erschöpft auf den einzigen Stuhl im Zimmer plumpsen.
Hier war ich nun also, und das für vier Wochen.