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Aus der Tiefe der Hölle

Willi Schmidt: Aus der Tiefe der Hölle

Roman, 160 Seiten, ISBN: 978-3-9802133-5-6

10,00 Euro


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In dem Roman wird in verdichteter Form die Realität von Jugendlichen in den 1970er Jahren beschrieben, von denen die meisten eine Berufsausbildung in der Gastronomie absolvieren.

Hauptperson ist Hans, der aus einem kleinen Dorf in einen Kurort kommt, wo er in einem Familienbetrieb eine Kochlehre beginnt. Dort endet seine dörflich behütete Kindheit. Er beginnt seinen neuen Lebensabschnitt mit Furcht und Neugier. Nach schwieriger Eingewöhnungszeit entwickeln sich rasch seine Fähigkeiten als Koch. Sein Chef ist zufrieden mit ihm. Gleichzeitig wächst seine Sehnsucht. Mehr und mehr schafft er sich eine Traumwelt. Seine Lebenswirklichkeiten verschwimmen und werden immer gegensätzlicher.

Andere Jugendliche begegnen ihm, Kolleginnen und Kollegen, die auch eine Lehre im Hotel machen; das türkische Mädchen Fatma, das ihrer Mutter beim Spülen hilft und welches eine besondere Faszination bei Hans auslöst.

Als eine in Hans schlummerte Krankheit aufbricht, er wächst für ihn neue Stärke daraus. Bald ist er fähig eine Entscheidung zu treffen, die sein Leben radikal verändert.

Textauszüge

Hans und Fatma sind in den Wald gegangen. An einem Nachmittag. Während der Freistunden, die Hans ansonsten dösend auf seinem Bett verbringt. Besonders im Sommer, wenn sich die Hitze draußen mit der Hitze des Herds vermischt und er verschwitzt, erschöpft von den Mittagen in der Küche, auf das Bett sinkt. Nachdem er sich das kalte Wasser ins Gesicht geschüttet hat und durchatmet und die schweren Knochen spürt und den Geruch an seinen Händen, den Zwiebelgeruch. Seit einiger Zeit hört er dann Beethoven, an diesen Nachmittagen. Er weiß selbst nicht mehr, wie er auf diese Idee gekommen ist. Wahrscheinlich hat er Beethoven im Radio gehört, zufällig, ohne es zu wissen. Etwas merkwürdiges, fremdes hat ihn dabei ergriffen, eine Verbundenheit, ein Gefühl, als gehöre er zu dieser Musik. Und dösend liegt er auf dem Bett, während die Schallplatte auf dem alten Plattenspieler läuft, den er von zu Hause mitgebracht hat, und er lässt die Musik eindringen in sein Dösen, eine verlassene Landschaft, gelblich am Verblühen, ausgedorrt von heißer Augustsonne. Und er sieht sich durch diese Landschaft gehen, müde, in Kochklamotten, die Fettränder an der weißen Jacke, die verschmierten Flecke von Fleisch und Soßen und Gemüseresten an der Schürze, mit schweren Schuhen (ist Vorschrift wegen Unfallgefahr) und allein. Über sein Gesicht rinnt in dünnen Strömen der Schweiß. Aber seine Hände sind gewaschen. Am Ende der Landschaft wird er erwartet. Fatma wird dort sein, mit langen, schwarzen Haaren und klaren Augen. Sie wird dort auf ihn warten um mit ihm zu gehen, am Ende der Landschaft. Da wird ein Wind wehen und sein Gesicht kühlen. Er hört die Musik von Beethoven. Er weiß nicht, woher sie kommt. Er wird mit Fatma gehen. Über die kräftig aufblühenden Felder ihrer Heimat, durch Farben die er noch nie zuvor gesehen hat, über abgeerntete Kartoffeläcker, wenn der Oktoberwind den Nebel bringt aus dem Wald, seiner Heimat. Der Schweiß wird trocknen und es wird kein Zwiebelgeruch mehr an den Händen sein.
Hans und Fatma gehen in den Wald, an einem Nachmittag im späten Sommer. Während ihrer Freistunden. Sie gehen den Berg hoch. Auf schmalen, frisch geteerten Straßen, vorbei an großen, neuen Häusern, hell gestrichen, mit sauberen Gärten und gefegten Höfen, aus denen manchmal Hunde hinter ihnen her bellen. Er sieht ihre braune Haut im Gesicht. Sie sieht seine schmalen, feingliedrigen Finger, die nicht so aussehen, als würde er jeden Tag damit schwer arbeiten. Sie atmen tief, weil es ihnen Mühe macht den Berg hoch, weil sie nicht wissen, wohin sie gehen. Die Häuser hören auf. Sie erreichen den Wald. Der Weg ist jetzt geschottert. Das Rauschen der fremden Stadt, unten im Tal, verschwindet. Sie treten in den Wald ein und werden von Stille empfangen. Es zwitschern keine Vögel. Am Wegrand wachsen dichte Gräser aus dunklem Grün. Bewegungslos stehen hohe schmale Fichten und kräftige Buchen beieinander. Sie wissen beide, dass es gleich ein Gewitter geben wird. Sie gehen weiter, schweigend und erwartungsvoll. Es klopft ein Specht. Der Ton ist dumpf. Hans hört Beethoven. Fatma kneift die Augen zu. Die Sonne verschwindet. Der Specht schweigt. Es ist still. Es wird düster.
Mit Fatma zusammen bin ich in den Wald gegangen. An einem Nachmittag im August. Während unserer Freistunden. Sonst habe ich meistens nachmittags auf dem Bett gelegen und habe Beethoven gehört. Ich konnte stundenlang Beethoven hören und nichts tun. Wenn ich Beethoven gehört habe, konnte ich alles um mich herum vergessen. Der Chef hätte das nicht verstanden. Der wollte, dass ich auch mal rausgehe, mehr unter die Leute, mal einen draufmache, Mädchen kennenlerne. Aber mir hat es genügt Beethoven zu hören. Und nichts zu tun.
Mit Fatma gehe ich in den Wald. Es ist ein Nachmittag im August. Wir wissen beide, dass es gleich ein Gewitter geben wird. Heiß ist es. Schwül ist es. Wir gehen nebeneinander her. Wir sagen nichts. Es geht keine Luft. Auf einmal fängt es an. Es schüttet. Der Regen ist so heftig, dass wir nach Atem ringen müssen. Wir lachen. Wir strecken die Köpfe nach oben, lassen den jetzt etwas nachlassenden Regen über unsere Gesichter laufen, öffnen den Mund, fangen das Wasser mit der Zunge. Ich sehe, wie sich das Wasser auf Fatmas Armen perlt, über die Haut rinnt. Das Gewitter kommt näher. Wir fassen uns an den Händen. Wir gehen schneller. Wir gehen tiefer hinein in den Wald. In mächtigen langgezogenen Tönen rollt der Donner. Ich höre Beethoven. Das Gewitter steht über uns. Es ist, als würde der Blitz in die Bäume neben uns einschlagen. Wir fassen uns fester an den Händen. Wir fangen an zu laufen. Wir laufen tiefer hinein in den Wald. Es blendet uns der aufzuckende Blitz, gleichzeitig zerschlägt sich der Donner in unseren Ohren. Wir rennen so schnell wir können, ohne unsere Hände loszulassen. Rennen dem Gewitter davon, mit jagenden Herzen, tiefer hinein in den Wald.
Das Gewitter verzieht sich. Es hört auf zu regnen. Wir gehen langsamer. Unser Atem ist aufgeregt, will nicht ruhiger werden. Wir sind weit weg im Wald. Wir beginnen unsere Hände, unsere Arme, unsere Wangen, unsere Finger mit den nassen Blättern einzureiben. Wir beginnen uns zu küssen.
Hans und Fatma küssen sich. Warm und feucht berühren sich ihre Lippen im Takt des Atems. Sie sind auf einer kleinen Lichtung angekommen. Das hohe Gras ist vom Regen umgeknickt. Sie hocken auf dem Gras, die Arme stützen den Kopf, sie spüren die Nässe, sie wissen nicht weiter. Ihr Kuss hat plötzlich gestockt. Es ist, als hätten sie sich erschrocken über diesen Kuss. Als hätte das Gewitter ihn herausgefordert und nun, wo das Gewitter innehält, die Vögel wieder zwitschern, die Luft wieder weht, hält auch der Kuss inne, verliert sein Recht. Verlegen führt ein Gespräch sie voneinander weg, nur ihr Blick hält stand, will nicht loslassen.
Sie schaut mich an. Lange. Ihr Blick ist streng und hell und ihr Haar ist dunkel wie der Wind. Und die Zeit bleibt stehen. Und ich schaue sie an und ich bin kein Fremder nicht mehr. Da hätte ich was tun sollen. Ganz starr sind wir in diesem Blick. Wie hingemalt. Wie zu Hause, am Waldrand, vor Sonnenaufgang. Man steht da. Schaut hinunter ins Tal. Alles ist ganz still. Nichts bewegt sich. Das Land hält den Atem an, bevor die Sonne aufgeht. Ganz plötzlich geht das und sie steht da, die Sonne. Und alles geht weiter.
Da hätte ich was tun sollen. Und ich habe geträumt. Ich habe geträumt, dass ich zusammenbreche, weil ich so schwach bin. Ich liege da, weil ich nicht mehr weiter weiß. Liege da und semiliere, was das alles soll. Und dann kommt sie herbei. Nimmt meinen Kopf, der viel zu schwer ist und streichelt mir die Stirn, bis ich ruhig werde, ruhig. Nichts ist passiert. Ich bin nicht zusammengebrochen. Unser Blick geht auseinander. Obwohl ich mich gewehrt habe. Aber ich weiß nicht, was ich tun soll. Unser Blick geht auseinander. Es ist zu spät. Geht auseinander. Alles bleibt stumm. Da hätte ich was tun sollen. Und alles wäre anders geworden. Alles.
Hans und Fatma sehen in den Himmel. Ein neues Gewitter ist aufgezogen. Sie lösen sich voneinander, stehen da, ratlos, Arme in den Hüften, Worte fuchteln stammelnd herum, bis sie sich auf den Weg machen, zögerlich, zurück in die Stadt. Während Gewitter und Regen lospoltern, nicht ganz so heftig wie vorhin. Aber es genügt, um sie voranzutreiben zu schnellem Schritt. Hans sucht noch verstohlen Fatmas Blick, findet ihn aber nicht. Und dann will er nur noch weg, niemanden mehr sehen, seine Ruhe haben.
Als sie die Stadt erreichen, fängt es an zu hageln. Sie stellen sich unter das Vordach eines Hauses und hören wie es in hohem Tempo über ihnen auf das Plastik kracht. Noch einmal zucken ihre Hände, aber Hans und Fatma sehen nur den Nebel des aufspritzenden Hagelschauers auf der Straße.

In der ‘Fasanerie’ wartet der Chef schon auf sie. Ein Bus mit Holländern ist angekommen und es muss schnellstens gekocht und gespült werden. Hans zieht seine Kochklamotten an und steht sehr bald darauf, in voller Konzentration, am Herd, nasse Haare unter der Mütze.
An der Ausgabe liegt die lange Liste der Bestellungen.


(...)


In der nächsten Doppelstunde haben sie Politik. Eine ältere Dame namens Blankenburg erklärt ihnen die Gefährlichkeit der Baader-Meinhof-Bande. Sofort sind ihnen die Plakate mit den vielen quadratischen Fotos wieder im Kopf. Und die rote Warnschrift. Allgegenwärtig hängen diese Plakate an allen amtlichen Stellen bis ins kleinste Dorf. Frau Blankenburg belehrt die Berufsschüler über die Bedrohung von Freiheit und Demokratie durch die Baader-Meinhof-Bande. Belehrt sie über die harte Hand des Staates, die notwendig ist, um diese Feinde unschädlich zu machen. Und dass dazu alle gefordert sind, mitzuhelfen. Wachsam zu sein, wer die Baader-Meinhof-Bande unterstützen könnte. Um die Sympathisanten (dieses Wort gräbt sich ein in Hans' Kopf) der harten Hand des Staates auszuliefern. Denn mit den Sympathisanten dringe man vor bis zum Kern und könne das Unkraut mit der Wurzel ausrotten (Hans erschrickt noch Jahre später bei dem Wort Sympathisant). Frau Blankenburgs scharfes Gesicht baut sich bedrohlich vor ihren Schülern auf, dass Hans fast ein wenig Mitleid bekommt mit der Baader-Meinhof-Bande, bei einer solchen Gegnerin. Und dann rezitiert sie mit gekonntem, vernichtendem Zischen das oberste Gesetz dieser Tage: Der Sympathisantensumpf muss trockengelegt werden. Unentwegt, ebenso allgegenwärtig wie die rotbeschrifteten Plakate mit den verzerrten Bösewichter-Gesichtern, wird dieser Satz verbreitet. Nachrichtensprecher, Lehrer, Stammtischler, Reporter, Eltern, Politiker - alle haben ihn tagtäglich auf den Lippen und Frau Blankenburg (wahrscheinlich alter ostpreußischer Adel, das "von" gestohlen durch die "Kommunisten"; "Kommunisten" war das Wort was jenem Satz folgte, als Ausrufezeichen hinterhergeschoben, alles Böse inklusive) und Frau Blankenburg rezitierte besonders gekonnt mit ihrem spannungsgeladenen Zischen.
Anfangs hat das die Berufsschüler gepackt, aufgerüttelt aus ihrem gelangweilten Dahindösen, denn eigentlich interessierte sie nur Fachkunde, alles andere war Beiwerk und eher wie ein freier Tag zu verstehen, der vormittags abgesessen werden musste um abends nicht mehr in die Küche zurückkehren zu müssen, ein dringend herbeigesehnter zweiter freier Tag in der Woche, halbfrei wenigstens und da ging alles außer Fachkunde unberührt durch sie hindurch.
Jetzt wollen sie das Gerede vom Sympathisantensumpf, der trockengelegt werden muss, nicht mehr hören. Auch das Gezische der Frau Blankenburg geht sie nichts mehr an und Hans ertappt sich manchmal bei der Vorstellung, wie er Mitglieder der Baader-Meinhof-Bande versteckt, so wie die Bandenmitglieder vom Schinder-Hannes und von Robin Hood und die Berufsschüler flüstern sich heimlich zu: Die wollen, dass alle Chefs abgeschafft werden, die von der Baader-Meinhof-Bande, das wollen wir doch auch, oder nicht, oder nicht? Und das Flüstern breitet sich aus über die langen Korridore der Schule, erreicht die Nachbarschule, und weil es in den Korridoren so überaus gut hallt, breitet sich das Flüstern weiter aus, erreicht Schule für Schule und keiner hört mehr das Gezische vom Sympathisantensumpf, sondern nur das Flüstern: die Baader-Meinhof-Bande will, dass alle Chefs abgeschafft werden, das wollen wir doch auch, auch, auch, oder, oder nicht, nicht, auch, auch...
Hans und Jochen sind gute Schüler. Beliebt bei den Lehrern, weil sie Interesse haben am Unterricht. Jedenfalls meistens. Aber heute hören auch sie der Frau Blankenburg nicht mehr zu. Sie rezitiert vor sich hin, ohne es zu bemerken, während Hans die Baader-Meinhof-Bande versteckt und er kennt gute Verstecke, weit weg im Wald, bei seinem Dorf, verlassene Hütten, verlassene Feldscheunen, wo keiner mehr hinkommt. Er kocht für sie und sie zeigen ihm, wie man Flugblätter schreibt, wie man schießt, wie man Bomben baut. Und sie lehren ihn aus Büchern, die sie für ihn mitgebracht haben, wer die Richtigen sind, die von den Bomben getroffen werden müssen. So geht das lange, bis eines Tages Frau Blankenburg die Richtige sein wird, bis ihr Zischen mit dem richtigen Knall, am richtigen Ort, zur richtigen Zeit beendet wird, für immer. Und dann wird der Chef abgeschafft. Es schellt. Jochen tippt Hans auf die Schulter.
"Das war wirklich zum Einschlafen. Immer das gleiche."
"Du hast recht", erwidert Hans. Und dann gehen sie an die frische Luft.